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Die guten Mitarbeitenden in Ruhe lassen

Mitarbeiterorientiert oder diskriminierend?

Eine kleine erlebte Szene aus meinen jungen Jahren, als ich noch angestellt gearbeitet habe: Morgens in der Teeküche sagte ich fröhlich zu einem Kollegen: „Was für ein schöner Tag, der Chef ist nicht da!“. Draußen stand allerdings der nächsthöhere Vorgesetzte, hörte das mit und bat mich um eine Erklärung. Peinlich, ich stotterte herum. Einerseits wollte ich meinen Chef nicht reinreißen, andererseits war es auch einfach ehrlich gewesen. Ein Tag mit abwesendem Chef fühlte sich für mich damals leichter, heller, freier an. Kennen Sie das auch?

Die Führungskraft als Störfaktor

Gerade für gute Mitarbeitende bedeutet es oft eine Störung im Arbeitsablauf, wenn sich die Führungskraft meldet:

  • eine Nachfrage per Mail, die man beantworten muss
  • die Anfrage, mal eben kurz den Stand eines Arbeitsauftrages zu berichten
  • die freundliche Frage, was man denn so mache (bestimmt nicht als Kontrolle gemeint)
  • die interessierte Anregung, wie man vorgehen soll – ja, der Chef glaubt meist, alles besser zu wissen, auch wenn er oder sie aus dem Tagesgeschäft lange raus ist
  • besonders beliebt: die eine oder andere kurzfristige Sonderaufgabe, zu erledigen asap, obwohl man wetten könnte, der Chef hätte sie schon tagelang im Maileingang gehabt

Auf all das kann man gut und gerne verzichten!

Kompetente Mitarbeitende brauchen ihre Führungskraft in der täglichen Arbeit nicht. Sie wissen, was zu tun ist, und wie sie es hinkriegen – oft besser als der Chef, auch wenn man das höflicherweise verschweigt.

 

Fazit also: „Chef, halte dich raus – das ist für meine Effektivität und Arbeitszufriedenheit am besten“.


Schild "Bitte nicht stören"
(c) Gerhard Altmann, Pixabay-Lizenz 2021

In Ruhe lassen – bequem für beide Seiten

Auch aus der Perspektive der Führungskraft hat es Vorteile, ihre guten Mitarbeitenden sich selbst zu überlassen. Das wichtigste: Hier drohen keine Probleme. Bei weniger kompetenten Beschäftigten ist es sinnvoll, engmaschig nachzuhaken, weil diese vielleicht nicht zurechtkommen, etwas falsch oder auch nur umständlich machen. Dann kann die Führungskraft die Leistung verbessern und helfen, wenn sie sich kümmert. Die guten Beschäftigten dagegen kommen selbstständig zurecht.

Das führt zu dem nächsten Vorteil: Es spart Zeit, wenn die Führungskraft einen Großteil ihres Teams sich selbst überlassen kann.

So gesehen ist es eine Win-Win-Situation, allerdings nur auf kurze Sicht.

Kurzfristige Vorteile überdecken langfristige Risiken

Kurzfristige Vorteile sind leider sehr machtvoll, so ist das menschliche Gehirn gestrickt. Die Schokolade vor der Nase hebelt das Abnehmziel aus. Die angenehme Entspannung hält uns auf dem Sofa fest, während die Folgen von Bewegungsmangel in weite Ferne rücken. Die Vermeidung eines unschönen Konflikts lässt uns eine berechtigte Kritik verschweigen, der Missstand dauert an.

Was folgt denn langfristig, wenn Führungskräfte die guten Mitarbeitenden sich selbst überlassen? Auch wenn jemand aktuell eine hohe Kompetenz zeigt, muss das nicht automatisch so bleiben. Was kann passieren?

  • die Person ruht sich auf ihren Erfolgen aus, oder
  • die Lebensschwerpunkte verschieben sich ins Privatleben und das Engagement lässt nach, oder
  • persönliche Belastungen wie eine Krankheit oder Krise nehmen Aufmerksamkeit vom Beruf weg, oder
  • durch die gute Arbeitsroutine fehlt eine Herausforderung, es wird langweilig, oder
  • neue Entwicklungen, ob unternehmenspolitisch oder technisch, werden verschlafen

Wann fällt eine dieser Entwicklungen auf? Zu spät! Gerade wenn sich Mitarbeitende den Ruf erarbeitet haben, kompetent und selbstständig zu sein, guckt man nicht mehr so genau hin.


Fehlentwicklungen lange unerkannt

Wenn die Führungskraft den – vormals – guten Mitarbeiter an der ganz langen Leine führt, dann können sich Kompetenzlücken und Fehler ansammeln und zu Kundenbeschwerden oder Vermögensschäden führen. Der gute Ruf eines Beschäftigten kann dann zusammenbrechen und sich ins Gegenteil verkehren.

Auch wenn es nicht so drastisch daherkommt: falsche Prioritäten führen zu falsch eingesetztem Bemühen. Bekommt ein Mitarbeiter, eine Mitarbeiterin nicht mit, wenn die Firma andere neue Ziele setzt, so strengt man sich an der falschen Stelle an.

Sogenannte „Altlasten“

Wenn exzellente Fachexperten lange sich selbst überlassen gearbeitet haben, kommt es vor, dass sie den Anschluss an Veränderungen der Firma oder des Marktes verlieren. Ein Selbstbild als Experte macht nicht unbedingt lernbereit – man glaubt, man überblickt alles. Die Kluft zwischen diesem Selbstbild und der realen aktuellen (Minder-)Leistung macht es zudem der Führungskraft schwer, ihre Unzufriedenheit zur Sprache zu bringen. Sie will den Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin nicht verletzen und vertagt das eigentlich notwendige Kritikgespräch immer wieder.

Ich habe da schon traurige Situationen mitbekommen, in denen im Umfeld von betroffenen – vormals exzellenten – Mitarbeitenden als „Altlast“ gesprochen wurde, die die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben.

Nicht thematisiert wurde dagegen die Verantwortung der Vorgesetzten, die über diese Entwicklung lange Zeit hinweggesehen haben, was bequem war.

Ungewünschte Fluktuation

Auf der anderen Seite finden wir die Fälle, wo hochkompetente Mitarbeitende die Entwicklungen aufmerksam verfolgen und sich aus Eigeninteresse ständig verbessern. Super, könnte man sagen. Doch weshalb sollten sie in dem Unternehmen bleiben, das sich so offensichtlich gar nicht kümmert? Sie werden ihren Marktwert kennen und ihre Chancen nutzen. Und die Führungskraft steht plötzlich vor einer ungewünschten Kündigung und einer Lücke im Team, die schwer zu füllen ist.


Verpasste Chancen

Auf längere Sicht nimmt man nicht nur die Risiken von Fehlentwicklung, Performance-Rückgang oder Kündigung in Kauf, sondern man verzichtet auch auf Chancen:

  • Auch ein guter Mitarbeiter kann sich weiterentwickeln! Die Führungskraft kann Impulse geben und zur Reflexion anregen.
  • Das Wissen und die Ideen von kompetenten Mitarbeitenden können weit über deren Schreibtischrand hinaus Nutzen bringen. Sie können Kollegen und andere Teams voranbringen und an Projekten teilnehmen – sofern die Führungskraft die richtigen Rahmenbedingungen dafür schafft und es auch einfordert.
  • Durch beides kann eine Leistungssteigerung entstehen, beim guten Mitarbeiter selbst, aber auch in seinem Umfeld. Wird eine Führungskraft nicht für sowas bezahlt?
  • Wenn gute Mitarbeitende erfahren: „Hier werde ich gesehen, hier kann ich eine individuelle Entwicklung nehmen, die mir guttut“, dann entsteht eine ganz andere Bindung an das Unternehmen als durch Prämien und andere geldwerte Leistungen. Sowas ist nicht leicht austauschbar.

Wo gibt es denn solche Führungskräfte?

So wie ich meinen damaligen Chef aus der Eingangsszene erlebt hatte, wäre ich im Traum nicht auf solche Gedanken gekommen. Schade eigentlich! Heute bin ich nicht sicher, ob er nicht auch anders gekonnt hätte, wenn ich es denn mal eingefordert hätte. Ich hatte keine Vorstellung davon, dass Führung – gute Führung wohlgemerkt! – mich als gute Mitarbeiterin auch weitergebracht hätte.

Weg vom alleinigen Trouble Shooting

Was macht es denn im Kern aus, dass Führungskräfte als Störfaktor erlebt werden? Sie agieren adhoc, wenn es einen Anlass oder ein Problem gibt. Nicht die Mitarbeitenden stehen im Fokus, sondern eine Sache muss vom Tisch. Dafür unterbrechen sie den Handlungsfluss ihrer Mitarbeitenden und mischen sich ein, ohne einen Mehrwert zu bieten. Und... wenn man das mal anders denkt?

  • Planbare und kontinuierliche Kommunikation
  • Führungsgespräche, in denen es sich um den Mitarbeiter, die Mitarbeiterin dreht
  • gerade bei guten Mitarbeitenden: Fokus auf deren Entwicklung und Einbeziehen von deren Vorschlägen

Klar, ich weiß auch, dass die gelebte Praxis meist nicht so aussieht. Dann lasst sie uns doch ändern! Führungskräfte, nutzt ein Tool wie den Monats-Jourfixe, um gute Mitarbeitende konstruktiv zu führen. Und Mitarbeitende, lasst es euch nicht gefallen, ignoriert zu werden, sondern fordert gute Führung ein!

Weite Führung ist ungleich „Laissez faire“

„Laissez faire“, das heißt machen lassen, und zwar alleine. Weite Führung bedeutet dagegen, sich mit Vertrauen und partizipativ für die Entwicklung von guten Mitarbeitenden einzusetzen.

 

Diskriminieren Sie Ihre kompetenten Mitarbeitenden also nicht länger, indem sie ihnen Führung vorenthalten!


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